Samstag, 3. März 2012

Auch Romane müssen gären

Lesung Thomas Lehr gibt Einblick in aktuelles Projekt
Vom 03.03.2012
Von Richard Lifka

Oestrich-Winkel . In diesem Jahr feiert das Rheingau Literatur Festival sein 20-jähriges Bestehen. Wie immer im Herbst, zur Zeit der Weinlese. Wenn die Winzer die Ernte ihrer Arbeit nach Hause tragen, präsentieren Autoren die Früchte ihres Schaffens an vielen Orten im Rheingau. Wie die hervorragendsten Weine prämiert werden, so erhalten auch die besten Schreiber und Schreiberinnen ihre Auszeichnung: den Rheingau Literatur Preis in Form von 111 Flaschen eben jenes Weines.

Werk erscheint erst 2014

Jetzt, am Ende des Winters, wenn der Gärprozess abgeschlossen ist, ruht der Jungwein und beginnt zu reifen. Was liegt näher, als diesen Herstellungsprozess auch einmal mit einem entstehenden Werk durchzuspielen. Dazu hatte der künstlerische Leiter und Moderator dieses Festivals Heiner Boehncke einen ehemaligen Preisträger zu einer "LeseProbe" eingeladen. Der Schriftsteller Thomas Lehr, der 1999 für seinen Roman "Nabokovs Katze" ausgezeichnet wurde und dessen aktuelles Werk "September. Fata Morgana" für kontroverses Aufsehen im literarischen Betrieb sorgt, ließ sich darauf ein und stellte seinen im Entstehen begriffenen Roman "Schlafende Sonne" dem zahlreichen Publikum in der Kelterhalle in Oestrich vor. Ein mutiges Experiment: Sind doch erst etwa 80 Seiten niedergeschrieben, und das Buch wird nicht vor 2014 fertiggestellt sein. Ein schwieriges Unterfangen, für den Autor, der den "Gärungsprozess" zwar nicht unterbricht, aber ihn doch schon öffentlicher Kritik preisgibt; für das Publikum, das einen Text hört, den es nicht nachlesen kann, dessen Kontext ihm nicht klar ist. Dass dies einigen zu viel war und sie in der Pause gingen, war schade. Denn einen derartig tiefen Einblick in die Arbeits- und Vorgehensweise eines Autors erhält man selten. Natürlich sind Lehrs Texte keine leichte Kost. Schwierige Satzkonstruktionen bei ständig wechselnden Handlungsorten und Erzählperspektiven fordern hohe Konzentration und die Bereitschaft, den Spaß an kunstvoller Sprache und Textmelodie dem Handlungsverständnis vorzuziehen.

Jeder Raum ein neuer Maler

Über den Inhalt äußerte sich Thomas Lehr nach der Pause. Die Geschichte spiele an einem Tag im Jahre 2011, erzählt würde sie aus der weiblichen Perspektive Milenas. Der Autor führe seine Figuren durch eine Bilderausstellung, jeder neue Raum ein anderer Maler (Lehr: eventuell leitmotivisch verwendet), ein neues Kapitel. Dabei werde nicht nur das Leben der vier Hauptprotagonisten erzählt, sondern auch 100 Jahre deutsche Geschichte: von 1914 bis 2014. Eine unvergleichliche Veranstaltung die allen Beteiligten Lust machte auf das vollendete Buch im übernächsten Jahr und Lust auf die "WeinLese" in diesem Herbst.