Montag, 24. Juli 2006

Wo der Tod kein Tabu ist

Literatur: Hessische Krimi-Autoren plaudern beim öffentlichen Stammtisch in Reichelsheim aus dem Nähkästchen
REICHELSHEIM. Stilecht im Gerichtssaal des ehemaligen großherzoglichen Amtsgerichts in Reichelsheim saßen sie auf den alten Gerichtsbänken – allerdings ohne selbst ein Verbrechen begangen zu haben: sympathische Mitbürger, Frauen und Männer mittleren Alters, die gemeinsam einer besonderen Leidenschaft frönen – sie erfinden Mordgeschichten und bringen sie zu Papier.
Die zehn „Schreibtischtäter“ sind alle Mitglieder einer Vereinigung von über mehr als 300 deutschsprachigen Krimi-Autorinnen und Autoren namens „Syndikat“, die 1986 gegründet wurde. Mittlerweile gibt es regionale Gruppen; und zum hessischen Julitreffen wurde in die Gersprenzgemeinde eingeladen. Krimikenner Lothar Ruske moderierte den öffentlichen Stammtisch, bei dem die Autoren aus dem Nähkästchen plauderten.
Publikumsneugier war erwünscht, und die fragenden Besucher kamen zu vielen Erkenntnissen. Warum schreibt jemand ausgerechnet Krimis? Zum einen sei es das Ausleben eigener „krimineller Energien“, das Zulassen des „Bösen, das in einem selbst drinsteckt“, ohne selbst töten zu müssen, was das „Wonne-Grausen“ laut Wolfgang Polifka beim Schreiben eines Krimis ausmacht. Zum anderen animierten Zeitungsgeschichten, Ereignisse im persönlichen Umfeld, Erfahrungen von Psychologen oder Fälle aus dem Kriminalarchiv zur Motivsuche für einen Mord, den Menschen meist in Extremsituationen begehen. Nach der Idee folgt die Umsetzung unter der Realitäts-Frage „Kann die Geschichte so geschehen sein?“. Personen müssen glaubwürdig, Handlungen nachvollziehbar sein. An dieser Stelle beginnt die Sacharbeit. Da wird im Internet recherchiert, beim Hauptkommissar der Abstand beim Schießen nachgefragt, Auskunft beim Apotheker über Medikamente eingeholt. Almuth Heuner empfiehlt den „stumpfen Stein“ als Mordwaffe, den könne man dann einfach in der Gersprenz verschwinden lassen. Und Klaus J. Frahm zweifelte die DNS-Analyse als „Lösung für alle Fälle“ an.
Krystyna Kuhn definierte den Krimi „als einen Bereich, in dem der Tod kein Tabu ist“, und Andrea Isari erzählte, dass Leser ihr die Richtigkeit ihrer Ortsbeschreibungen in Rom bestätigt hätten. Nach wie vor sei ein Krimi aber in erster Linie Fiktion und keine Dokumentation. Auf die Frage nach der Schreibdauer an einem Kriminalroman verriet Susanne Kronenberg, dass sie ein Jahr veranschlage – ihre Krimikollegen sprachen von einer Zeitspanne, die von drei bis 24 Monate reicht. Richard Lifka textet auch mit anderen im Team, und Alexander Köhl berichtet vom Leserfeedback via Internetseite. Die einen schreiben mit Planung, bei den anderen verselbstständigt sich die Geschichte. „Es kann schon mal passieren, dass der anfängliche Plot mit der Figurenentwicklung nicht mehr stimmt – dann heißt es revidieren und wieder neu beginnen“, so die Erfahrung von Adolf Heinzlmeier. Rund 20 Prozent Inspiration brauche man, der Rest sei reine Fleißarbeit, so lautete das einhellige Credo. Einig waren sich alle Anwesenden auch darüber, dass sie „nur vom Krimi-Schreiben nicht leben können“. Das oberste Gebot heißt: Spannung . Und dass die kriminalistischen Literaten die Kunst, Spannung zu erzeugen, meisterlich beherrschen, zeigten ihre kurzen Lesungen aus eigenen Werken. Mehr über die Mörder und ihre Opfer aus den Federn der Stammtisch-Kriminalisten ist nachzulesen in dem Werk „Tatorte Hessen – kulinarisch“, das Ende August erscheint.
Odenwald Echo, 24.7.2006