Sonntag, 25. Juni 2006

Richter, Revolutionär und Krimiautor

Der Schriftsteller Jodocus Donatus Hubertus Temme

Von Richard Lifka

„ ... Es war gegen sieben Uhr, als er durch das Spitalhölzli ging ... Am Fuße der Anhöhe, die er zur Fortsetzung seines Weges hinaufsteigen musste, sah er einen Mann auf dem Boden liegen, dicht neben dem Wege, nach dem Flusse hin. Er dachte, es sei ein Betrunkener, kümmerte sich daher nicht weiter um ihn und setzte seinen Weg fort.“

So beginnt der Kriminalroman „Studentenmord in Zürich“ von Jodocus Donatus Hubertus Temme. Ein Name, den der passionierte Krimileser sicherlich nicht so schnell vergessen würde, hätte er ihn schon einmal gehört oder einen Roman von ihm zu Gesicht bekommen. Aber der Schriftsteller, wohl einer der meistgelesenen Krimiautoren seiner Zeit und wichtigste Vertreter der deutschen Kriminalprosa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde vergessen und seine Bücher sind vielleicht noch in einem Antiquariat zu finden. J.D.H. Temme wurde 1798 in Westfalen geboren. Zunächst sah alles nach einer glanzvollen juristischen Karriere aus: 1839 wird er zum Rat am neu eingerichteten Kriminalgericht in Berlin ernannt, wo er 1842 zum Zweiten Direktor avancierte. 1845 aber wurde er wegen zu "liberaler" Äußerungen nach Tilsit strafversetzt. Drei Jahre später kehrte er als Staatsanwalt zurück und wurde Mitglied der Berliner Nationalversammlung. In Münster verurteilte ihn 1851 die wieder erstarkte Reaktion als aktives Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung wegen Aufruhrs und Hochverrats, nach dem er zuvor mehrere Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatte. Temme wurde aus dem Dienst entlassen und verlor seine Pensionsansprüche. Für kurze Zeit arbeitete er als Redakteur bei der Neuen Oderzeitung, musste jedoch, nach neuerlichen politischen Attacken, mit seiner Familie in die Schweiz emigrieren. Dort blieb er bis zu seinem Tod 1881. In Zürich bekam er zwar eine Professur an der Staatswissenschaftlichen Fakultät, blieb allerdings unbesoldet, was für den Juristen ein herber Schlag, für die Kriminalliteratur aber ein Glücksfall war. Temme musste seinen Lebensunterhalt verdienen, indem er seine Erlebnisse bei Gericht zu literarischen Erzählungen ausarbeitete. Zwar hatte er schon im Gefängnis vier Romane geschrieben, von denen drei bald schon als „Revolutions-Romane“ verboten wurden, der überwiegende Teil seines Werkes entstand jedoch in der Schweiz. Von den vielen Veröffentlichungen seien hier nur die vierbändige Sammlung „Deutsche Criminalgeschichten“ von 1858/59 und die zehn Bände „Criminal-Novellen“ von 1860-64 erwähnt. 1872 erschien der schon erwähnte Krimi „Studentenmord in Zürich“, den Temme selbst als die Wiedergabe eines „Kriminalprozesses über einen politischen Mord, der noch immer in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt ist“ bezeichnete. Der auf Tatsachen beruhende Fall wird akribisch nachgezeichnet, des Ermordeten Lebensumstände skizziert und die letzten Lebenstage anhand von Gerichtsakten und Zeugenaussagen rekonstruiert. Der „Studentenmord in Zürich“ ist nicht nur eine literarisch verarbeitete Gerichtsberichterstattung, sondern zeichnet auch ein sorgsam gestaltetes Sittenbild der Schweiz aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zählt zu den Vorläufern des modernen Kriminalromans, der mehr bietet als das bloße Lösen eines detektivischen Rätsels à la Poe oder Conan Doyle. Ein Nachdruck der Erstausgabe erschien diese Tage in der Reihe „Schweizer Texte“. Ein spannendes und aufschlussreiches Buch für alle, die sich für Kriminalliteratur interessieren.

Info:

Temme, Jodocus Donatus Hubertus
Der Studentenmord in Zürich
Criminalgeschichte
Herausgegeben von Paul Ott und Kurt Stadelmann
Reihe: Schweizer Texte, Neue Folge. Band: 23
2006. 114 S. ISBN 3-0340-0768-X