Samstag, 27. Januar 2007

Darmstädter Amsel, Wiesbadener Nachtigall

Eröffnung des hr2-hörfestes im Literaturhaus in der "Welthauptstadt des Hörens" Wiesbadener Von Richard Lifka

An der Tür zum ersten Stock des Literaturhauses sitzt der Leiter des Kulturamts, Arno Fischer, hinter einer Tuba versteckt, begrüßt die Gäste mit tiefen Tönen und verführt sie, ins Labyrinth des Hörens einzutauchen. Die gesamte Villa Clementine wird an diesem Abend in einen Ort des Hörens verwandelt. Aus dem flämischen Salon ertönen im Wechsel Klavier- und Geigenmelodien, im Großen Salon zwitschern japanische und deutsche Kohlmeisen. Eine Darmstädter Amsel komponiert virtuos, und eine Wiesbadener Nachtigall brilliert mit ihren Soloeinlagen. Ab und zu beginnt der Kronleuchter zu wackeln, wenn im darüber liegenden Seminarraum lediglich mit der menschlichen Stimme der Klang eines Schlagzeugs erzeugt und dazu marschiert und getrampelt wird. Nur in einem Nebenraum herrscht Stille. Dort werden Klangerlebnisse aus mehreren CD-Playern über Kopfhörer abgespielt.
Bevor dieser wahre Hörmarathon begonnen hatte, war in den Räumen des Presseclubs das hr2-hörfest von Rita Thies eröffnet und Wiesbaden von Volker Bernius zum sechsten . Mal zur "Welthauptstadt des Hörens" ernannt worden. Neben all diesen Tönen gab es noch drei Vorträge, die parallel in den jeweils unterschiedlichen Räumen der Villa Clementine gehalten wurden. In den Pausen konnte man sich stärken, austauschen und auf ein neues Hörerlebnis vorbereiten. Ein Fest, das die akustische Welt erschließen, Besinnung herbeiführen sollte. Dies war der Anspruch, der an diesem Abend voll eingelöst wurde.
Dass ein Film nicht nur gesehen, sondern auch gehört wird, meist unbewusst, verdeutlichte der Stummfilm-Musiker Günter A. Buchwald und machte eindrucksvoll am Flügel und mit seiner Geige bewusst, welche Bedeutung Musik für den Film hat, wie sie das Betrachten der Bilder beeinflusst. Etwas anders der Wiener Vocal Percussionist Richard Filz, der ganz praktisch mit seiner jeweiligen Gruppe Techniken einstudierte, wie man mit Mund und Stimme Rhythmen erzeugen kann. Dem Bio-Akustiker und Ornithologen Bernd Petri gelang es, mit selbst aufgenommenen Vogelgesängen und Naturgeräuschen den Zuhörern zu verdeutlichen, dass sie selbst, allein beim Hören von Vogelstimmen, Jahreszeit, Wochentag und Ort bestimmen konnten, an dem die Aufnahmen gemacht wurden. Man muss eben nur gut zuhören.

Freitag, 5. Januar 2007

Lesemarathon

Zu einem Marathon hatte die evangelische Kirche in Bierstadt geladen – zu einem Marathon der ganz besonderen Art. Nicht 42,195 Kilometer galt es zu bewältigen, sondern fast zwölf Stunden voller Literatur, vorgetragen von 33 prominenten Zeitgenossen beim Lesemarathon im ältesten Gotteshaus Wiesbadens.
Aus Fernsehen, Sport, Politik, Kirche und Kunst bekannt waren die Gäste, die alle spontan und gerne ihre Zusage gegeben hatten.„Wir waren wirklich überrascht, welch positive Resonanz wir auf unsere Anfragen erhalten haben und wie schnell sich unsere Liste der Vorleser gefüllt hat“, freute sich Kirchenvorsteher Werner Born. „Dafür allen Beteiligten unseren herzlichen Dank“. So kamen die Besucher in den Genuss, höchst unterschiedliche Persönlichkeiten beim Vorlesen ebenso unterschiedlicher Literatur zu erleben: Lese- und Redeprofis ebenso wie jene, die noch niemals in der Öffentlichkeit gelesen hatten. Heiteres und Besinnliches, Komik und Melancholie, Politik und Klassik, alles hatte dabei seinen Platz.
Unterschiedliche Besuchstaktiken zeigten sich bei den Zuhörern. Die einen suchten sich gezielt die Vorleser oder Titel heraus, die sie am meisten interessierten und suchten während ihrer Pause beim gleichzeitig stattfindenden Gemeindebasar Abwechslung oder stärkten sich an Kuchen, Kartoffelpuffern und Würstchen. Andere blieben en suite auf ihrem Platz und hörten einfach allen zu. So wie Margot Seulberger die fünf Stunden hintereinander den Lesemarathon genoss und anschließend total begeistert war: „So viele unterschiedliche Geschichten und interessante Vorleser, das war ein einmaliges Erlebnis“. Hatte sie doch während dieser Zeit Detlev Bendel, Hildegard Bachmann, Martin Seidler, Pfarrer Helmut Marx, Viola Gärtner, Dr. Hans-Joachim Jentsch, Steffen Seibert, Marco Pighetti, Till Krabbe und Ulrike Neradt live erleben können.
Zwei Zeitabschnitte waren extra für Kinder reserviert worden, um den kleinen Leseratten eine Freude zu bereiten. Angelika Thiels, Jan Immel und Benjamin Krämer-Jenster lasen mit viel Begeisterung, vor denen auf den extra ausgelegten Teppichen sitzenden und aufmerksam zuhö-renden Kindern und vielen interes-sierten Erwachsenen. Jüngste Vorleserin war Kira Voll, die im Frühjahr als Siegerin aus dem Vorlesewettbewerb der Bierstadter Grundschule hervorgegangen war. Sie las ebenfalls in der Kinderzeit aus dem Buch „Sams in Gefahr“ von Paul Maar. Die unbestritten meisten Zuhörer lockte Dr. Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ und Bestellerautor mit seinem Buch „Das Methusalem-Komplott“, in die evangelische Kirche. Mit teils erstaunlichen Zahlen („Jedes zweite heute geborene Mädchen hat eine Lebenserwartung von 102 Jahren“ und „Ein heute 70-Jähriger ist hinsichtlich seiner Zellalterung auf dem Stand eines 55-Jährigen, der Mitte des 20 Jahrhunderts gelebt hat“), die für manches Raunen im Publikum sorgten, begleitet er seinen ebenso anspruchsvollen, wie wissenschaftlich fundierten und interessanten Vortrag. Der in Bierstadt aufgewachsene und in eben dieser Kirche auch konfirmierte Schirrmacher unterstütze die Aktion „Erhalten helfen“ im übrigen nicht nur durch seine Teilnahme am Lesemarathon, sondern auch durch seine großzügige Spende.
Standing ovations erhielt Schauspieler und Radiomoderator Klaus Krückemeyer für seine witzigen Texte von Horst Evers, die er nicht nur einfach vorlas, sondern ebenso komisch wie gekonnt förmlich vorlebte.Doch auch alle anderen, die sich in den Dienst der guten Sache gestellt hatten, durften sich über viel Applaus und begeisterte Zuhörer freuen, die das vom Förderkreis „Erhalten helfen“ am Eingang aufgestellte gläserne Spendenglas immer höher füllten, so dass am Schluss die sensationelle Summe von fast 1700 Euro für die Renovierung der Kirche zusammenkam!
Selbst als die Ziellinie des Marathons ins Sicht kam und die Turmuhr mit immer mehr Schlägen das Fortschreiten der Zeit unüberhörbar ankündigte, harrten die Lesefans in erfreulich großer Zahl aus, um Klaus Angermann, Dieter Zimmer, Rita Thies, Claudia Brillmann, sowie den Dekanen Roth und Heinemann zuzuhören. Den Endspurt hatten Wolli Herber und die Krimiautoren Dieter Schmidt und Richard Lifka übernommen, bevor Gemeindepfarrer Andreas Friede-Majewski mit Nachtgebeten aus fünf Jahrhunderten um 23 Uhr einen besinnlichen Schlusspunkt unter eine eindrucksvolle Veranstaltung setzte.