Freitag, 18. Januar 2013

Gefundenes und Erfundenes

 

Wiesbaden . Viele wollten die Schriftstellerin Ursula Krechel sehen und lesen hören. Das war vorhersehbar. Hat sie doch 2008 mit ihrem Buch "Shanghai fern von wo" den Durchbruch als Romanautorin geschafft und dafür unter anderem den Rheingau-Literaturpreis erhalten. Ebenso wurde ihr der Wiesbadener Lyrikpreis "Orphil" verliehen. Ihr neuer Roman "Landgericht", für den sie den Deutschen Buchpreis erhielt, spielt in Mainz. Also jede Menge Gründe, eine Lesung mit ihr zu besuchen.
Gut besucht
Die Ausstellungshalle des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst war dementsprechend gut gefüllt. Der Journalist Andreas Platthaus stellte die Autorin vor. Er sprach mit ihr über das "Landgericht" und Krechels Recherchen zum Thema "das Elend in der Emigration und das Scheitern nach der Heimkehr". Ebenso über ihre Suche nach der Erzählperspektive und dem Abwägen, wie viel Gefundenes ins Werk einfließen dürfe und müsse.
Das begann schon mit der Namensfindung für die Romanfiguren, beispielsweise für den Protagonisten Richard Kornitzer, der 1948 aus dem Exil auf Kuba nach Deutschland zurückkehrt und dessen Name zwar einen jüdischen Klang haben sollte, aber wiederum auch nicht zu deutlich.
Ursula Krechel berichtete, dass sie bereits 1980 anfing, sich für das Schicksal der aus Hitler-Deutschland nach Shanghai geflohenen Emigranten zu interessieren. Nach intensivem Forschen in Archiven, vielen Gesprächen mit Betroffenen und deren Nachfahren, habe sich das Material angesammelt, mit dem sie versuche, Dokumentarisches mit Fiktionalem zu verknüpfen und dennoch die Übergänge deutlich beizubehalten. Zunächst in Hörspielen realisiert, habe sie dann in "Shanghai fern von wo" und besonders in "Landgericht" die geeignete Form gefunden.
Schlechte Raumverhältnisse
Man hatte sich entschieden, dass Ursula Krechel nach der Gesprächsrunde eine lange Passage aus "Landgericht" las. Keine gute Entscheidung. Unter den schlechten Verhältnissen in der Ausstellungshalle litt das Publikum ebenso wie die Autorin. Die Zuhörer versuchten sich mit ihren Winterjacken vor der Kälte, Ursula Krechel mit einem Schal ihre Stimme zu schützen. Bleibt die Frage, wofür Wiesbaden ein teuer renoviertes, wunderbares Literaturhaus hat, wenn Lesungen in einem kühlen, atmosphärelosen und mit bescheidener Akustik ausgestatteten Raum stattfinden. Die Begründung, dass die Nachfrage zu groß war, in der Villa Clementine weniger Plätze zur Verfügung stünden, zieht nicht. Jeder Raum hat seine Grenze. Wenn die Veranstaltung ausverkauft ist, ist sie das eben.
Der Roman "Landgericht" wird als nächster Fortsetzungsroman in dieser Zeitung zu lesen sein.

Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 18.01.2013, Seite 18

Von Richard Lifka

Dienstag, 15. Januar 2013

Auf dem Tattoo grinst ein Frosch

 

Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 15.01.2013, Seite 16

Von Richard Lifka
Wiesbaden . Das Unglück begann damit, dass kurz vor Mitternacht die Beatles anfingen "Good morning, good morning ..." zu singen und Feuerbach aufs Display des Mobiltelefons schaute: Nadeshda! "Das muss jetzt aber wirklich wichtig sein", brummte er.
Diese Gedanken setzen sich aus Erinnerungsfetzen allmählich zusammen, während Frederic sein Bewusstsein wiederlangt. Er spürt jeden einzelnen Knochen und sein rechter Arm brennt, als ob er auf einem Grill läge. Natürlich ein homöopathisches Mittel musste es sein. Typisch Nadeshda.
Fieber, Husten, Schnupfen und Halsschmerzen - ein grippaler Infekt und die junge Dame gelüstete es nach etwas Naturheilkundlichem. Aconitum, Chamomilla und Mercurius solubilis. Ihr Freund hielte sich wieder mal auswärts auf, also sei Feuerbach ihr Retter in höchster Not. Wer konnte da schon nein sagen?
Auf dem Motorroller
Er versucht die schweren Augenlider zu heben und gibt es sofort auf. Stattdessen stochert er weiter im Nebel vergessener Vergangenheit. Er saß auf Nadeshdas Motorroller und fluchte. Nicht nur, dass es nach Mitternacht war und nur die Notdienstapotheken in Breckenheim gewünschte Wundermittel vorrätig hatte, es setzte auch noch ein heftiges Schneegestöber ein, als der Detektiv den Kreisel vor Breckenheim erreichte. Im Schritttempo fuhr er die Alte Dorfstraße entlang. Laut Google Maps musste zunächst links die Sparkasse kommen. Anschließend erst der Dorfplatz, danach die Kirche und dann, ebenfalls auf der rechten Seite, die Apotheke.
"Irgendetwas ist mir aufgefallen", murmelt er leise, worauf ein deutliches "Ich glaube, er wird wach", zu hören ist. Woher kommt diese Stimme? Egal, beschließt er, ich muss weiterdenken.
Vor der erleuchteten Bankfiliale stand ein Kombi, grau vielleicht. Ein Mann stieg aus, untersetzt und, und? Was war da? Eine Wollmütze, okay, noch was - das Gesicht. Richtig, das war eine Grimasse ...
"Meinen Sie, das wird heute noch was?" Eine Männerstimme. "Feuerbach ist hart im Nehmen." Eine Frauenstimme - Nadeshda, nasal, verschnupft und krächzend. Frederic entscheidet sich, auch diese Erkenntnis zu ignorieren und lieber seinen Gedanken nachzuhängen.
Der Apotheker war ziemlich müde, aber nett und packte sofort Nadeshdas gewünschte "Kügelchen mit der sanften Heilwirkung" in eine Plastiktüte. Mittlerweile war Breckenheim unter weißem Puder begraben und der Straßenverlauf kaum noch auszumachen.
Und dann bin ich los gefahren, grübelt der Detektiv, und dann ... hat´s mich vom Roller geschmissen. Warum? Ich habe zur Bank hingeschaut und "da ist was explodiert", ruft er laut.
"Richtig!", kommt es prompt von nebenan. Nun musste er wohl doch die Augen öffnen und der Realität ins Antlitz blicken. Eine weißgetünchte Decke kristallisiert sich aus dem Schleier. Er bewegt die Pupillen nach rechts, erkennt Nadeshdas Gesicht. "Was machst du an meinem Bett?" "Krankenbett, um genau zu sein", antwortet sie, und die Erleichterung ist ihrer verschnupften Stimme anzuhören. "Wieso?" "Naja. Wenn man dich zur Apotheke schickt, landest du prompt im Krankenhaus. Und die Schlafstätte dort nennt man halt Krankenbett. Ein Hüsteln kommt von rechts. Frederic dreht zeitlupenhaft den Kopf.
"Entschuldigen Sie, Herr Feuerbach. Ich bin Kriminalhauptkommissar Maus vom LKA. Könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?" "Klar, kann er. Meinen Chef bringt so eine Sprengung doch nicht zum Schweigen", wirft Nadeshda eilig ein. "Sprengung? Was ist explodiert?" "Der Bankautomat der Breckenheimer Sparkasse", fuhr der Polizist fort.
"Das war jetzt der neunte Überfall im Rhein Main Gebiet. Immer die gleiche Vorgehensweise. Der Typ platziert einen Sprengsatz am Automaten, legt eine Lunte bis raus vor die Tür und jagt das Ganze in die Luft. Rafft schnell die herumfliegenden Scheine zusammen und verschwindet. Der Schaden ist meist höher, als die Beute. Mal ein paar Tausender, aber auch mal nur einen Hunderter. Je nachdem, wie effektiv die Sprengung war. Allerdings in Breckenheim hat er wohl ein bisschen viel Semtex genommen. Die Druckwelle war so groß, dass es Sie vom Motorroller gefegt hat."
"Ich dachte, ich sei im Schnee ausgerutscht ... das ist ja richtig brachial. Haben Sie ihn denn geschnappt? Nadeshda, bitte tue mir den Gefallen und höre auf rumzuzappeln. Das Bett wackelt wie Pudding ..."
"Sorry, aber es ist doch klar, dass der Kerl abhauen konnte. Sonst würde der Kommissar dich kaum in deiner wohlverdienten Ruhe stören. Woran kannst du dich erinnern?" "Frau Beck, bitte. Überlassen Sie die Befragung mir. Also, Herr Feuerbach." "Ein Mann mit Maske, untersetzt, ein dunkelfarbener Wagen, dann bin ich gestürzt ..." Der Detektiv schließt die Augen.
Er schlug um, der Roller rutschte weiter. Frederic blieb liegen, direkt neben dem grauen Kombi. Verdammte Schmerzen, überall. Konnte nicht aufstehen, versuchte zum Gehweg zu kriechen. Unmöglich. Plötzlich eine Hand. Fasste ihn an der Jacke, zog ihn von der Straße. Feuerbach stöhnte: "Holen Sie einen Arzt." Keine Antwort. Die Hand ließ los. Gedämpfte Schritte im Schnee. Ein Motor wurde angelassen. Ein Auto fuhr fort.
Er schüttelt schwach den Kopf. "Nichts." Der Kommissar zeigt ihm Fotos. Aufnahmen von Kameras in den Automatenräumen. "Immer derselbe Typ. Klein, dicklich, Trainingsanzug und eine Halloween-Maske vorm Gesicht. Keine Fingerabdrücke, weil er Handschuhe trägt. Wir kommen keinen Schritt weiter".
Die Hand war nackt. Ganz deutlich die Hand, bevor sie seine Jacke packte.
Auf dem Handrücken
Kurze Finger, abgekaute Nägel und ... und ... "Eine Tätowierung", stößt der Detektiv hervor. "Er hat auf dem Handrücken ein Tattoo. Ich sehe es genau vor mir. Das war ein, ein Frosch. Ja, sicher: ein grinsender Frosch."
Einen Tag später tritt Nadeshda an Feuerbachs Krankenbett. "Du bist ein Held. Stell dir vor: Der Bankautomatensprenger heißt Frosch. Peter Frosch. Er und sein Tattoo waren beim LKA aktenkundig. Wie blöd kann man nur sein! Zur Belohnung habe ich dir ein paar leckere Globuli mitgebracht. Rhus Toxicodendron, Bellis Perennis und ein paar Arnikakügelchen, natürlich."