Samstag, 5. Oktober 2013

Auf der Suche nach dem Selbst

 

RLF II Mainzer Stadtschreiber Peter Stamm liest aus „Nacht ist der Tag“ im Weingut Baron Knyphausen

Michael Herrmann, Intendant des Rheingau-Literatur-Festivals begrüßte im Erbacher Weingut Baron Knyphausen Autor Peter Stamm als Stammgast. Ein Kalauer, den der Schweizer wohl nicht zum ersten Mal vernahm. Gemeint war, dass der Schriftsteller nicht nur im Jahr 2000 den Rheingau-Literaturpreis erhalten habe, sondern zum vierten Mal am Programm teilnahm – in diesem Jahr als aktueller Mainzer Stadtschreiber über den Rhein gekommen sei. Auch die Bemerkung, im Rheingau scheine stets die Sonne, wenn Peter Stamm anreist, mag als Überleitung zu dessen meist im Nebel ihrer Existenz herumirrenden Romanfiguren durchgehen. Allerdings war es auch Hinweis auf das anschließende Gespräch zwischen Schriftsteller und Moderator Martin Maria Schwarz. Es blieb oberflächlich.

Und der Zweck der Kunst?

Das Thema der „Suche nach dem Selbst“, das Stamm in seinem neuen Roman „Nacht ist der Tag“ aufgegriffen hat, sei „schwierig“, betonte der Autor mehrmals. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer definiert mich? Das waren die Fragen. Aber auch die nach dem Nutzen der Kunst wurde gestellt. Warum schreiben wir Bücher oder malen Bilder? Das alles habe keinen praktischen Wert im Vergleich etwa zum Backen von Brot. Ob nun provokant oder ironisch gemeint, wurde nicht klar, denn kurze Zeit später stellte Stamm fest, natürlich habe Kunst einen Zweck. Nur welchen, blieb unerörtert.

Anregender wurde es, nachdem Stamm den Anfang des Buches vorgelesen hatte. Auch in „Nacht ist der Tag“ beginnt die Handlung im Krankenzimmer, genauso wie in Martin Walsers neuem Roman „Die Inszenierung“, der gleichfalls auf dem Festival vorgestellt wurde (wie berichtet). Bei Stamm ist es Gillian, die das klischeehaft stilvolle Leben einer Fernsehmoderatorin führte, bevor sie bei einem Autounfall nicht nur ihren Mann, sondern auch ihr Gesicht verlor. Real und metaphorisch. Während die Ärzte versuchen, „das Loch im Gesicht“ plastisch zu schließen, ist Gillian auf der Suche nach sich selbst. Wieder ist es Stamms vielgerühmter Stil der knappen und schnörkellosen Sätze, der im Kopf des Lesers starke Bilder entstehen lässt. Die scheinbar gefühllose Distanz des Erzählers zu einer dermaßen emotionsbeladenen Handlung schafft viel Platz für Fantasien.

In der Szene, die vor dem Unfall spielt, wird der zweite Protagonist vorgestellt. Es ist der dünnhäutige Aktmaler Hubert, dem Gillian Modell steht. Durch den Wechsel der Erzählperspektive rückt die Betrachtung der Frau von außen in den Fokus. Sie wird zum Objekt des Künstlers, ist nicht mehr sie selbst. Der Spiegel, mit dem Gillian im Krankenhaus sich selbst zu erkennen sucht, verwandelt sich in die Augen des Malers, der einen ganz anderen Mensch findet.

30.09.2013 - ERBACH