Donnerstag, 20. Dezember 2012

Zu viel Zucker im Glühwein

 

Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 20.12.2012, Seite 20

Von Richard Lifka
Wiesbaden . "Also, ich gehe jetzt mit Manuel und meiner Schwester Monika da hin. So ein bisschen Weihnachtsstimmung kann nicht schaden." Nadeshda hatte ihre gefütterte Winterjacke an und eine rote Pudelmütze über die dunkelbraunen Haare gestülpt. Frederic blieb ungerührt sitzen und schaute über den Rand seiner Brille. "Was ist daran weihnachtlich, wenn man sich durch Massen von Leibern quetscht, ständig angerempelt wird und die Füße plattgetreten bekommt. Abgesehen davon, dass das Gedudel immer gleicher Weihnachtsmusik schon seit Wochen aus allen Lautsprechern quillt. Nee, danke. Da lese ich lieber ein gutes Buch, trinke einen hervorragenden Bordeaux und lege das Weihnachtsoratorium auf: ,Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage` und so weiter."
Rausch für alle Sinne
"Banause und Miesepeter. Erstens ist es schön, sich unter fröhlichen Menschen zu bewegen, und zweitens ist der Sternschnuppermarkt für mich ein Meer aus Lichtern und Farben, eine Melange aus Klängen und Wohlgerüchen, ein Rausch für alle Sinne. Was heißt, wir rauschen dann mal ohne dich ab. Schönen, einsamen Abend noch, Herr Detektiv." "Pass auf, dass es kein Vollrausch wird und dein Freund dich zugedröhnt nach Hause schleppen oder schlimmer noch, in die Klinik transportieren muss." Darauf antwortete Nadeshda erst gar nicht und schwirrte ab.
Manuel fällt einfach um
Frederic war zwar von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt, aber dass er visionäre Kräfte besaß, überraschte selbst ihn. Es waren kaum zwei Stunden vergangen, da erhielt er einen Anruf aus den Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken. Hektisch bestellte er ein Taxi und rannte kurze Zeit später die kahlen Flure des Krankenhauses entlang. Im Wartebereich vor der Notaufnahme fand er Monika. "Wo ist Nadeshda?", rief er ihr entgegen. "Sie ist mit Manuel . " Noch bevor sie den Satz beenden konnte, kam Nadeshda durch eine Glastür, weinend und sichtlich verstört. Als sie Frederic sah, warf sie sich in seine Arme und jammerte los. "Sie wissen nicht, ob er überlebt ... sie reden irgendwas von Drogen oder Ecstasy ... hat noch nie so ein Zeug ... einfach umgefallen". "Jetzt mal der Reihe nach," forderte Frederic Nadeshda auf, als er mit den beiden Frauen in der Cafeteria saß. Langsam konnten sie wieder klare Gedanken fassen, da Manuel außer Lebensgefahr war und die Ärzte Entwarnung gegeben hatten. Nadeshda erzählte: "Wir drei sind die Dotzheimer runtergeschlendert und über die Schwalbacher in die Fußgängerzone. Als wir auf den Marktplatz kamen, war es brechend voll. Deshalb entschieden wir, erst gar nicht groß rumzulaufen, sondern uns gleich an einen dieser Holztische in der Mitte des Schlossplatzes zu stellen. Von dort aus konnten wir die Bühne vor dem Rathaus einsehen. Es war schon beeindruckend, dieses Lichtermeer, der grandios geschmückte Brunnen, die über zwanzig Meter hohe Weißtanne mit ihren unzähligen Lichtern, genauso wie die in Blau und Gold gehaltenen Stände. Manuel und ich stellten uns an so einer Bude an, um Glühwein zu holen. Vor uns waren zwei junge Typen, die ziemlich lange brauchten, bis sie ihre Getränke geordert und bezahlt hatten. Dabei alberten sie rum, knufften sich gegenseitig und kicherten ununterbrochen. Manuel und ich nahmen drei Glühweine, natürlich in original Wiesbadener Tassen. Wir standen so rum, betrachteten die Menschen und plötzlich ..." Nadeshda stockte, schloss die Augen und fuhr fort: "... plötzlich rang Manuel nach Atem, griff sich an den Kopf, fiel einfach um." Frederic bat Nadeshda, alles nochmals zu erzählen. "Jede Kleinigkeit ist wichtig. Denk nach, auch du Monika." Monika starrte in ihren Kaffee.
"Nein, nichts. Außer - aber das ist unwichtig - Manuel hat sich Zucker in den Glühwein getan. Wir haben ihn noch damit aufgezogen, ,Süßmäulchen´ und so ...", "... ja, richtig", ergänzte Nadeshda, "ich habe ihn gefragt, ob er denn immer ein paar Tütchen mit sich herumtrage. `Gefunden´, hatte er lächelnd geantwortet. Hey, jetzt fällt es mir wieder ein. Es war noch am Stand. Einem dieser Typen vor uns ist etwas heruntergefallen und Manuel hat es aufgehoben. Bevor er es zurückgeben konnte, waren die beiden schon gegangen."
Nadeshda schloss erneut die Augen, versuchte jedes Detail aus ihrem Unterbewusstsein abzurufen. "Ja, oder? Doch, es waren zwei braune Zuckertütchen." "Und er hat sich den Inhalt beider in den Glühwein geschüttet?", bohrte Frederic weiter. Monika antwortete: "Nein, nur eins." Sie hatte kaum den Satz beendet, stand Feuerbach auf und eilte in Richtung Intensivstation. Zehn Minuten später kam er mit Manuels Jacke zurück. Er durchwühlte alle Taschen und fand tatsächlich ein braunes Tütchen. Vorsichtig riss er es auf und schüttete ein paar der weißen Kristalle auf seine Handfläche. "ICE!", stieß Nadeshda hervor und starrte in die fragenden Augen Feuerbachs.
Der aus Bayern stammte Glühweinverkäufer staunte nicht schlecht, als mehrere Polizeibeamte seinen Stand durchsuchten. Schnell fanden sie eine Schachtel voller brauner Zuckertütchen.
"Crystal Meth, auch ICE genannt, gilt als `Partydroge´ und ist bei jungen Leuten beliebt", erklärte Nadeshda auf dem Nachhauseweg Monika und Frederic. "Ein Teufelszeug. Nicht nur, dass es Hirnmasse abbaut, zu Psychosen und Wahnvorstellungen führt, es macht auch sehr schnell süchtig. Zerstört den ganzen Körper. Wer Crystal Meth nimmt, fühlt sich glücklich, stark und kann nächtelang durchtanzen".
Gefährliche "Süßigkeit"
Und dann zog sie das Fazit: "Bei Manuel hat das Zeug, in Verbindung mit dem Alkohol, zu einem Schock geführt. Er hätte sterben können. Kommissar Fischer erzählte mir, dass diese Droge einfach herzustellen sei. Über Tschechien käme sie nach Bayern, wo sie längst ein großes Problem ist. Unser Glühweinverkäufer hat einen neuen `Vertriebsweg´ entdeckt. Auf ein in der Szene bekanntes Stichwort hin, hat er zur Glühweintasse das entsprechende Zuckertütchen geliefert. Pech für Manuel, aber großes Glück für den Sternschnuppermarkt, dass diese beiden Typen vor lauter Euphorie zwei ihrer `Süßigkeiten´ verloren haben, der Stand geschlossen wurde und wir wieder gefahrlos einen Glühwein schlürfen können." "Wir?" "Morgen bin ich mit von der Partie. Versprochen."