Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 10.10.2012, Seite 18
Eine kleine Holzbühne vor dem Altar. Darauf ein runder Tisch, ein Mikrofon, ein Glas und eine Karaffe mit Kamillentee. Lauwarm musste er sein. So wollte er es. Die Kirchenbänke waren dicht gefüllt. Eine erwartungsfrohe Spannung schwebte durch die Lutherkirche.
Zur gleichen Zeit versuchte der berühmte deutsche Dichter, sich Erleichterung zu verschaffen. Er bewegte die Hände, drehte die Gelenke in den Fesseln. Es half nichts. Absurd, dachte er trotz der Schmerzen und schüttelte seinen Kopf. Der Enkel einer seiner Romanfiguren hatte ihn entführt, gegen seinen Willen in einen Kellerraum geschleift und geknebelt.
Ein Albtraum? Doch wann würde er erwachen? Er kniff die Augen zusammen, um den Mann zu erkennen. Er konnte nur ahnen, woher die Stimme kam, die ihn, wie aus dem Nichts, anklagte.
"Du hast ihn in die Öffentlichkeit gezerrt, ihm Lächerlichkeiten angedichtet, ihn zum Gespött der Nation gemacht. Damit wurden auch wir, meine Eltern und ich, zur Lachnummer, zu den Verrückten, den Finks, die die hessische Regierung vor den Kadi schleifte. Wie oft saß ich alleine im Schulhof der Gutenbergschule, habe mich richtiggehend versteckt, um den Hänseleien meiner Mitschüler zu entkommen."
Der Stuhl bleibt leer
Die Kirchenbesucher wurden unruhig. Vor zwanzig Minuten sollte die Lesung anfangen, doch noch immer war der Stuhl vor dem Altar leer und der Kamillentee kalt geworden. Feuerbach, der neben Nadeshda in der zweiten Reihe sitzend, schon bereute, sich von ihr zu diesem Besuch überreden zu lassen, schmerzte das Hinterteil. Diese Holzbänke waren nur für Sünder, denen ein bisschen Pein half, ihre Sünden zu bereuen. Feuerbach empfand es als Quälerei. Mit Worten wie "ein literarisches Großereignis" oder "eine Ikone der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" hatte Nadeshda ihn mit ins Dichterviertel geschleift.
Warum diese Lesung ausgerechnet in einer Kirche stattfand, fragte er sie. "Ich vermute, dass es mit seinem Roman "Finks Krieg" zusammenhängt, dem Ereignisse zugrunde liegen, die sich in Wiesbaden zugetragen haben. Die Hauptfigur ist ein hoher Regierungsbeamter, der die Abteilung leitete, die sich um die Beziehungen der Landesregierung zu den Kirchen kümmerte. Dieser Beamte hatte einen bürokratischen Krieg gegen die damalige Regierung geführt. Er war seines Erachtens zu Unrecht degradiert und verleumdet worden. Besonders die Kirchenfürsten spielten dabei keine rühmliche Rolle ..." Nadeshda unterbrach ihren Redeschwall, da in diesem Moment ein Mann vor die Zuhörer trat.
"Was wollen Sie von mir?", krächzte der Autor. "Ihr Großvater selbst hat mir die Unterlagen der Prozesse überlassen. Er wollte, dass sein Leidensweg niedergeschrieben wurde, und zwar von mir." Der alte Mann brach ab, seine Stimme versagte, schwer atmend fiel sein Kopf nach vorne. Sein Peiniger trat aus dem Dunkel hervor und tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust. "Ganz einfach. Sie schreiben ein neues Buch. Sie erzählen, was "Finks Krieg" für die anderen Familienmitglieder bedeutete, unseren Leidensweg, unsere Qualen und was das aus unserem Leben gemacht hat ... dann lasse ich sie frei." Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ der Mann den Raum und kam kurze Zeit später wieder zurück. Wortlos löste er die Fesseln und zwang den Autor mitzukommen.
Der Weg war kurz, schon nach ein paar Metern betraten sie einen weiteren Raum. Dort gab es eine Liege, einen Schreibtisch, einen Stuhl und eine chemische Toilette. Auf dem Schreibtisch stand ein Computer, daneben ein Stapel beschriebener Blätter. "Ich habe alles festgehalten. Sie sichten es und machen daraus einen Roman. Je schneller Sie schreiben, um so eher kommen Sie hier wieder raus." Mit diesen Worten ging der Fremde und schloss von außen ab.
Der Vorsitzende der Kirchengemeinde trat ab und hinterließ ein ratloses Publikum. Der Schriftsteller war nicht gekommen, die Veranstaltung ausgefallen.
Feuerbach wäre ein schlechter Detektiv, wenn er nicht bemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur, wie der Redner herumeierte, war merkwürdig gewesen. Viel alarmierender waren die Polizeibeamten, die am Seiteneingang erschienen. Darunter auch Hauptkommissar Fischer, den er gut kannte. Während die enttäuschten Besucher die Kirche verließen, steuerten Frederic und Nadeshda direkt auf die Polizisten zu.
"Alles, was wir wissen ist, dass Martin Walser im Hotel von einem Gast angesprochen wurde und zusammen mit ihm gegangen ist. Der Portier beschrieb uns diesen Fremden, dessen Name Ralf Fink sei. Zwischen 20 und 30 Jahre alt.
In Wiesbaden gibt es keinen mit diesem Namen, der altersmäßig hinkäme." Es war Fischer anzusehen, unter welchem Druck er stand. Die Presse lauerte bereits vor dem Kirchenportal, morgen war der verschwundene Autor der Aufmacher schlechthin. Der Polizeipräsident würde ihm gehörig Dampf machen.
Nadeshda zupfte Feuerbach am Ärmel und signalisierte ihm, ihr zu folgen. Sie lockte ihn über die Mosbacher Straße hinüber zum Gutenbergplatz, wo ihre Vespa stand. "Was ist ...?" Nadeshda unterbrach ihn. "Ist dir nichts aufgefallen? Nein? Du scheinst mir kein bisschen zuzuhören! Fink! Klingelt`s? Nein? Roman!"
Feuerbach schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Klar. Aber hilft uns das?" Feuerbach dachte nach, und Nadeshda tippte auf ihrem tragbaren Telefon herum. Innerhalb von Sekunden hatte sie, google sei Dank, herausgefunden, wer das reale Vorbild für die Romanfigur Stefan Fink war. Eine weitere Suche im Online-Telefonbuch ergab, dass ein Mann mit diesem Nachnamen in der Brentanostraße wohnte. "Das ist gleich hier um die Ecke", rief Nadeshda, die Frederic den Helm zuwarf und sich auf den Motorroller schwang.
"Hilfe!"
An der Wohnadresse angekommen, lief Feuerbach zum Eingang, drückte auf den Klingelknopf. Keine Reaktion. Ratlos rannten sie zum Nachbarhaus. Frederic blieb abrupt stehen und bedeutete Nadeshda ruhig zu sein. Dann sprang er über das niedrige Eisentor, sie folgte ihm. Nun hörte sie es ebenfalls.
Undeutlich, aber im Näherkommen deutlicher werdend: "Hilfe!".
Wenig später wimmelte es von Polizeifahrzeugen in der Brentanostraße. Der Dichter, dem ein Sanitäter eine graue Wolldecke umgelegt hatte, stand vor Frederic und Nadeshda, schüttelte beiden die Hände, dankbar und gerührt.