Raoul Schrott beim Rheingau Literatur Festival
Von Richard Lifka
GEISENHEIM Was ist los, wenn sich zweihundert Menschen bei Kerzenlicht im Gewölbe der Sektkellerei Bardong in Geisenheim versammeln und bei stickig-warmer Luft über zwei Stunden lang gebannt ausharren? Ein mit Tiroler Akzent sprechender Mittvierziger betritt die Bühne und wird vom Publikum des Rheingau Literatur Festivals wie ein Popstar empfangen. Er ist kein Sänger, trägt aber einen Gesang vor, ist kein Prediger, spricht aber über Götter, ist kein Politiker, berichtet aber von blutigen Schlachten. Vor allem ist er kein Revolutionär, schreibt aber das Skandalbuch des Jahres.
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott hat nichts anderes getan als schon viele vor ihm. Er hat ein 2500 Jahre altes Werk übersetzt. Das in 24 Gesänge aufgeteilte Epos heißt "Ilias", und den Autor nennen wir Homer. Obwohl das nicht sein Name war, stellt Raoul Schrott sofort klar, als Moderator Heiner Boehncke seine erste Frage stellt. Wie von Athene geküsst, löst die knappe Frage einen Redeschwall des Gastes aus. Den Zuhörern schwirrt der Kopf, was da an Wissen, Ideen und Forschungsergebnissen auf sie einprasselt - und so verständlich, dass auch derjenige, dem die griechische Mythologie bisher eher verschlossen geblieben war, Lust bekommt, sich mit dem Trojanischen Krieg, Achilleus, Agamemnon und wie die Urväter der europäischen Kulturgeschichte alle heißen, zu beschäftigen.
Populistisches Gehabe nennen das Schrotts Gegner, renommierte Altphilologen, Althistoriker und Schliemanns Erben. Schrotts Thesen haben deren Homer-Bild und Wissen über den abendländischen Ursprungsmythos stark ins Wanken gebracht. Da gibt es auch einiges zu diskutieren. Homer sei kein Grieche gewesen, sondern ein assyrisch gebildeter Schreiber, die Trojanischen Kriege hätten nicht in Troja stattgefunden, sondern in der kilikischen Ebene. Kilikien, in der türkischen Kniebeuge zu Syrien hin gelegen, sei Homers Heimat, und dort spiele sein Epos. Schrotts Buch "Homers Heimat" hat den gesamten Kulturbetrieb aufgemischt.
Genauso umstritten ist die Übersetzung: Der heutigen Sprache nahe gebracht, ist verzeihlich, aber auch dem heutigem Geist - ist das nicht ein Sündenfall? Aus diesem Sündenfall las Schrott eine Stunde lang vor, manchmal in Altgriechisch, zumeist jedoch in seinem Deutsch. Und das faszinierte. Weitere Gäste des Festivals waren an diesem Wochenende: Jenny Erpenbeck, Jan Seghers und Oliver Bock.