Krimi-Autor mit Anrecht auf Einzelzelle
RHEINGAU-LITERATUR-FESTIVAL Ulrich Wickert zu Gast auf Schloss
Johannisberg / Lesung aus "Das marokkanische Mädchen"
So sehr der Moderator Heiner Boehncke auch insistierte, endlich mal einen
Hamburg-Krimi von Ulrich Wickert lesen zu dürfen, blieb der Autor dabei: Seine
Kriminalromane sind in Frankreich angesiedelt und werden es weiterhin sein.
Genauer gesagt: Paris. Warum auch nicht. Lebte der Gast beim diesjährigen
Rheingau Literatur Festival nicht nur viele Jahre in Paris, leitete lange Zeit
das Pariser ARD-Studio, gilt als ausgesprochener Frankreichkenner und erhielt
2005 den Titel "Offizier der französischen Ehrenlegion". "Was den Vorteil hat,
wenn ich mal ins Gefängnis muss, das Anrecht auf eine Einzelzelle zu haben und
mir mein Essen aus einem Restaurant bringen lassen kann", so Wickert über diese
Auszeichnung.
Aber es sprächen noch weitere Gründe für den Handlungsort Paris. So sei die
Kriminalität in Deutschland eher mittelmäßig im Vergleich zu Italien mit seiner
Mafia und Frankreich mit seiner korrupten Regierung. Außerdem gäbe es die
Position des Untersuchungsrichters, der uneingeschränkt ermitteln kann. Dies sei
für ihn der Ausschlag für seinen Protagonisten Jacques Ricou gewesen. Natürlich
konnte die Chance, einen derartigen Kenner unseres westlichen Nachbarn nicht
ungenutzt bleiben, um ihn nicht nach den aktuellen Beziehungsproblemen zwischen
den beiden Ländern zu befragen. Eine halbe Stunde lang stand der ehemalige
Tagesthemen-Moderator Rede und Antwort, bevor er aus seinem neuen Roman "Das
marokkanische Mädchen" vorlas. Fünf Abschnitte bekamen die Zuhörer im voll
besetzten "Fürst-von-Metternich-Saal" zu hören. Fünf Abschnitte, die mit einer
Überschrift eingeleitet und jeweils aus einer anderen Perspektive erzählt
werden. Da gibt es einen Auftragskiller, einen französischen und englischen
Radrennfahrer und einen marokkanischen Kleinkriminellen, der mit Freund, Ehefrau
und Tochter unterwegs zu einem Deal ist. Schnell ist klar, worauf das
hinauslaufen wird. Bevor die gefesselt zuhörenden Besucher in die Pause gingen,
wurden sie Zeugen eines vierfachen Mordes.
Auch im zweiten Teil des Abends
ging es wieder um Frankreich. Zur Diskussion stand die unterschiedliche
Interpretation des Begriffes Kultur in den beiden Ländern, festgemacht an der
Auffassung von Kultur und Zivilisation. Wickerts klare Aussage dazu: "Ein
zivilisierter Mensch ist mir wesentlich lieber als ein kultivierter." Was dann
die Überleitung zu Jacques Ricou bildete, dem Genussmenschen und der Hauptfigur
aller fünf Kriminalromane.
Spannende Fragen
Die zweite Textpassage, die Wickert las, stellte den
Protagonisten vor, beschrieb ihn bei seinem allmorgendlichen Ritual: Im
Lieblingsbistro Zeitung lesen, dabei ein oder zwei noch warme Croissants in den
Café au Lait tunken. Wem da nicht sehnsüchtige Bilder in den Kopf kamen? Noch
stundenlang hätte man Wickert zuhören können, hätte ihm viele Fragen stellen und
vor allem wissen wollen, wie die Kriminalgeschichte sich fortentwickelt. Für
Fragen war keine Zeit mehr. Wie es mit dem versteckten marokkanischen Mädchen
weitergeht, kann und sollte jeder selbst lesen. Garantiert eine informative und
spannende Unterhaltung.
Wiesbadener Kurier Rheingau vom 26.09.2014, Seite 22